Derzeit gibt es einen großen Hype um Künstliche Intelligenz. Bringt die Technologie wirklich die erwarteten fundamentalen Umbrüche in Gesellschaft und Industrie? Ähnlich wie das Aufkommen des Internets zur Jahrtausendwende?
Dr. Matthias Peissner: In den Medien lässt sich definitiv ein gewisser Hype beobachten. Der erste Schub kam im Herbst 2022 mit ChatGPT, und es werden vermutlich weitere Hypes – und Enttäuschungen – folgen. Langfristig ist der Weg jedoch klar vorgezeichnet: KI erreicht in den nächsten Jahren ein Niveau, das bis vor kurzem unvorstellbar war. Schauen Sie sich an, wie viele Produkte menschlicher Intelligenz uns umgeben. Und stellen Sie sich jetzt vor, dass all diese Dinge in Zukunft auf einer künstlichen Intelligenz basieren, die der menschlichen ebenbürtig oder in Teilen sogar überlegen ist. Das wird massive Veränderungen mit sich bringen. Wir stehen definitiv an einer großen Schwelle.
Markus-Christian Eberl: Aus meiner Sicht geht der Vergleich mit dem Aufkommen des Internets zur Jahrtausendwende nicht weit genug. Wenn man sich die Technikgeschichte anschaut, fand ein wesentlicher Teil der industriellen Entwicklung in den letzten 2000 Jahren – bildlich gesprochen – unterhalb des Halses statt. Die Innovationen von der Wasserkraft über die Dampfmaschine bis hin zur vollautomatisierten Produktion zielten im Wesentlichen darauf ab, die Muskelkraft des Menschen und seine Geschicklichkeit zu „maschinisieren“. Wenn jetzt der Teil oberhalb des Halses, also die Intelligenz, „maschinisiert“ wird, ist mit großen Veränderungen zu rechnen – in Unternehmen und in der Gesellschaft.
Wir stehen also vor der Industrialisierung des Denkens?
Peissner: Es besteht natürlich die Gefahr, dass wir mit KI unsere Probleme noch verschärfen – man denke an die gewaltigen Energiemengen, die das Training großer Sprachmodelle verschlingt. Zudem könnte KI neue Ungleichheiten erzeugen oder bestehende verstärken. Beim Blick auf die Weltkarte deutet sich das schon an: Alle großen KI-Hotspots befinden sich im Norden, wo auch das Training der Modelle stattfindet. Im globalen Süden dagegen werden sie nur genutzt – und ein Großteil der Erde ist derzeit komplette „KI-Wüste“.
Eberl: Jede neue Technologie birgt zugleich Risiken und Chancen. Gleichzeitig steht fest, dass solch starke Technologien nicht ignoriert werden können. Für Wirtschaftsunternehmen besteht die Notwendigkeit, die Technologie verantwortungsvoll nutzbar zu machen, und zwar möglichst schnell. Denn derzeit erleben wir, wie die technologische Halbwertszeit immer weiter sinkt. Zur Zeit unserer Großväter umfassten Technologiezyklen noch ein halbes Menschenleben, zu meiner Studentenzeit war es vielleicht noch eine Dekade. Mittlerweile dauern Technologiezyklen nur noch ein oder zwei Jahre – und sind zum Teil kürzer als die typischen Anpassungszeiträume von Unternehmen. Das bringt Chancen für neue Spieler und fordert gleichzeitig die etablierten heraus. Unternehmen, deren Stärke auf Erfahrung oder einem über Jahrzehnte aufgebauten USP basiert, sollten diesen Zug keinesfalls verpassen. Eine extrem mächtige Technologie und ein extrem hohes Veränderungstempo kommen zusammen – das ist schon eine besondere Mischung.
Wie setzt Porsche Engineering KI bereits ein?
Eberl: Eines von vielen Beispielen ist die Nutzung von KI im Absicherungsprozess von automatisierten Fahrfunktionen. Diese Systeme müssen nicht nur in Standardsituationen zuverlässig reagieren, sondern auch in Sonderverkehrssituationen. Stellen Sie sich etwa eine reich geschmückte Kuh vor, die beim Almabtrieb auf der Straße läuft. Obwohl es sich um eine außergewöhnliche Verkehrsbeeinträchtigung handelt, muss das Tier vom System sicher erkannt werden. Zahlreiche Fahrzeuge sind jeden Tag viele Kilometer unterwegs, um möglichst viel „Anschauungsmaterial“ zur Absicherung der automatisierten Fahrfunktionen in unterschiedlichsten Situationen zu sammeln. Dabei gleicht die Identifikation der seltenen Fälle in den Sensor- und Videodaten der Fahrten, wie etwa der geschmückten Kuh vom Almabtrieb, der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Unter Umständen sind nur 0,0001 Prozent einer Aufnahme relevant. Deshalb haben wir eine KI darauf trainiert, solche sogenannten Corner Cases zu identifizieren und zu extrahieren – und erhöhen damit die Effizienz im Entwicklungs- und Absicherungsprozess in hohem Maße. Ein anderes Praxisbeispiel für die Anwendung von KI sind große Sprachmodelle (Large Language Models), die wir bereits in der Softwareentwicklung einsetzen, um beispielsweise die Effizienz des sogenannten Codings von Software zu erhöhen. Wenn ich ein Problem ausreichend gut beschreibe, kann ein gut trainiertes LLM den entsprechenden Code auf Entwicklungsstufe 1 sehr effizient generieren. Das heisst, das bisher von Expertinnen und Experten durchgeführte Coding einer Funktion wird KI-maschinell in guter Qualität erledigt. Die weiteren Optimierungs- und Integrationsschritte dieses Codes sind aktuell überwiegend noch Expertenaufgabe, allerdings entwickeln sich die diesbezüglichen KI-Fähigkeiten derzeit rasant.
„Die Größenordnung der anstehenden Veränderungen darf durchaus mit der industriellen Revolution verglichen werden.“ Markus-Christian Eberl, CEO von Porsche Engineering
Ein LLM gibt unter Umständen jeden Tag eine leicht unterschiedliche Antwort. Wie verträgt sich das mit klassischer Ingenieurwissenschaft, wo es auf Verlässlichkeit und Präzision ankommt?
Eberl: Hier ist tatsächlich ein Umdenken gefragt. Bisher war das Ingenieurstudium darauf ausgelegt, naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu lernen und auf technische Probleme anwenden zu können. Auch die im Ingenieursalltag angewendeten elektronischen Verfahren beruhten vorwiegend auf mathematischen und empirischen Methoden, die mit hinreichendem Aufwand von der Expertin oder dem Experten selbstständig und eindeutig durchgeführt oder zumindest nachvollzogen werden konnten. Mit KI kommt jetzt eine völlig neue Methodik rein, die auf einem Training mit großen Datensätzen basiert. Dieser grundlegende Unterschied sollte sowohl bei der Gesamtabsicherungsstrategie als auch bei der darauf aufbauenden Freigabe berücksichtigt werden, denn selbst wenn die Ingenieurin oder der Ingenieur nicht mehr jeden Schritt „durchdringen“ kann, muss die Verlässlichkeit des Ergebnisses am Schluss garantiert sein. Ansätze wie „Explainable AI“ zielen darauf ab, dass die Ergebnisse der KI inhaltlich nachvollziehbar bleiben. Andere Absicherungsverfahren kombinieren klassische und KI-basierte Methoden.
Peissner: Maschinelles Lernen stellt den großen Paradigmenwechsel dar. Wie diese Systeme zu ihrem Ergebnis kommen, ist zunächst nicht zu erkennen. Insofern gilt der Spruch aus der Luftfahrt „Wenn du nicht mehr verstehst, was das System macht, schalte es ab“ nicht mehr. Aber wir können durch diese neue Art des Arbeitens auch neue Erkenntnisse gewinnen. In der Medizin etwa wird schon länger ein Verfahren eingesetzt, das verschiedene Arten von Hautkrebs erkennt und klassifiziert. Aus so einem System lassen sich auch neue Indikatoren für gute menschliche Entscheidungen ableiten.
Muss die Ingenieurin oder der Ingenieur von morgen die deterministischen Modelle überhaupt noch beherrschen?
Peissner: Natürlich, sonst sind wir der KI völlig ausgeliefert! Es braucht jemanden, der prüft, ob das, was die KI liefert, auch valide ist. Außerdem ist ja auch der Weg zum Ergebnis mitunter wichtig. Wenn ich zum Beispiel im Internet etwas recherchiere, stolpere ich oft über Artikel, die ich vielleicht nur durchscanne. Aber dabei lerne ich neue Dinge und erweitere meinen Horizont. Wenn ich die Recherche dagegen mit ChatGPT mache, bekomme ich ein Ergebnis, das ich sofort verwenden kann, aber mir fehlt dieser Prozess – das Links- und Rechtsgucken. Doch genau darauf basieren viele Innovationen.
Eberl: Hinzu kommt ja, dass KI das menschliche Gehirn bei simpleren Aufgaben entlastet, wie bei der Aufbereitung von Daten. So gewinnt man Zeit für kreativere Aufgaben. Man nutzt die KI als Werkzeug und sieht sie nicht als Konkurrent.
Wie können Unternehmen ihre Belegschaften auf diese neue Art des Arbeitens vorbereiten?
Eberl: Das Ziel sollte die „Demokratisierung von KI“ sein: Das Thema muss bis in alle Endknoten des Unternehmens getragen werden, sodass jede oder jeder die Chancen der neuen Technologie sieht und auch ergreift. Weil uns das Thema so wichtig ist, haben wir bei Porsche Engineering einen eigenen Hauptbereich für Big Data und AI etabliert. Das ist unser Nukleus. Doch für eine erfolgreiche „Demokratisierung von KI“ braucht es einen größeren Change-Management- Ansatz. Wir müssen zusätzlich pragmatische Lösungen zeigen und Leuchtturmprojekte vorantreiben, an denen die positiven Aspekte der neuen Methoden sichtbar werden. Wenn uns das gelingt, bekommt das Thema eine Eigendynamik. Man braucht „Push“ vom Zentralbereich – plus „Pull“ aus allen Teilen der Organisation.
Bei KI kann Europa bisher nur eine Pionierleistung vorweisen: Mit dem AI Act haben wir die Technologie als Erste reguliert. Wo steht Europa im weltweiten KI-Wettlauf?
Eberl: Mit dem Thema KI wird in den unterschiedlichen Regionen der Welt unterschiedlich umgegangen: In Europa neigen wir zu einer eher risikoorientierten Sicht. Wir versuchen, Probleme zu antizipieren und zu vermeiden. In anderen Teilen der Welt dominiert eine chancenorientierte Sicht. Es liegt in der Natur der Sache, dass gewisse Entwicklungen dort schneller vollzogen werden. Für uns als Unternehmen ist es wichtig, dass wir durch unsere Präsenz in allen Regionen der Welt die lokalen Unterschiede in Forschung und Entwicklung, Anwendung und Regulierung von KI kennen. So haben wir einen umfassenden Blick auf KI in der Welt gewonnen und können unseren Kunden passgenaue Lösungen anbieten.
Peissner: Ich finde generell, wir sollten uns in Deutschland mehr auf unsere Stärken konzentrieren! Wir sind in der Forschung gut aufgestellt, und über die KI-Strategie der Bundesregierung wurden viele Mittel gut eingesetzt. Was uns im Vergleich mit den USA fehlt, ist das private Investment. Deshalb sind wir auch nicht konkurrenzfähig, wenn es darum geht, große Sprachmodelle zu entwickeln. Aber vielleicht ist das auch nicht notwendig. KI ist schließlich eine Allzwecktechnologie – im Prinzip wie Elektrizität. Es geht nicht darum, wer sie erfindet, sondern wer sie schnell effizient einsetzt. In diesem Rennen haben wir noch nicht verloren. Wir müssen die Prozesse komplett neu denken, gerade auch mithilfe der Mitarbeitenden. Diese Tradition der Mitgestaltung ist eine Stärke, die wir in Deutschland zu wenig ausspielen.
In Technologiekreisen wird schon über Artificial General Intelligence (AGI) gesprochen, also eine generalistische KI, die dem Menschen überlegen ist. Kommt eine solche Technologie auf lange Sicht?
Eberl: Wenn Sie zum Beispiel Volta oder Edison gefragt hätten, was Elektrizität heutzutage alles möglich macht – sie hätten unsere moderne Realität vermutlich nicht sehr gut vorhergesagt. Prognosen über so lange Zeiträume sind schwierig. Ich denke, momentan ist relevant, die Bedeutung der Technologie zu erfassen und ein adäquates Change Management zu etablieren. Grundsätzlich neigen wir Menschen dazu, Entwicklungen linear fortzudenken. Aber die neue Technologie KI wird – wenn sie erst mal Fuß gefasst hat – ganz neue Möglichkeiten eröffnen und exponentielle Effekte haben. Sie zu prognostizieren, dürfte eher eine Aufgabe für Philosophinnen und Philosophen sein.
Peissner: Ich glaube wirklich, dass wir in Zukunft über eine Künstliche Intelligenz verfügen, die der menschlichen in einigen Aspekten überlegen ist. Vielleicht passiert das sogar noch in diesem Jahrzehnt. Aber die Frage wird doch sein: Können 90 Prozent der Bevölkerung diese Fortschritte noch verstehen – oder wird KI zu einem Thema für eine kleine Elite? Ich denke, hier liegt eine wichtige Aufgabe für die Zukunft: Wir müssen sicherstellen, dass die Technologie allen dient.
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 2/2024.
Text: Constantin Gillies
Fotos: NÓI CREW
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